Emotionale Verlagerung
Emotionale Verlagerung

Kurze Zusammenfassung der Gestalttherapie

Die Gestalttherapie ist eine erfahrungsorientierte Form der Psychotherapie, die sich auf das Hier und Jetzt konzentriert. Sie wurde von Fritz Perls entwickelt und basiert auf der Idee, dass Menschen durch bewusste Wahrnehmung und Selbstverantwortung wachsen und sich weiterentwickeln können.


• Ganzheitlichkeit: Körper, Geist und Emotionen werden als untrennbare Einheit betrachtet.
• Bewusstwerdung (Awareness): Durch Selbstwahrnehmung und Reflexion können unterdrückte oder unbewusste Emotionen erkannt werden.
• Verantwortung übernehmen: Jeder Mensch trägt die Verantwortung für seine Emotionen und Handlungen.
• Kontakt und Beziehung: Echtheit in zwischenmenschlichen Beziehungen fördert Heilung und Wachstum.
• Unfertige Gestalten (unfinished business): Unverarbeitete Erfahrungen aus der Vergangenheit beeinflussen unser gegenwärtiges Verhalten, bis sie bewusst durchlebt werden.


Die Illusion von Zeit und Ort in unseren Gefühlen

Hast du jemals das Gefühl gehabt, an einem bestimmten Ort "zu Hause" zu sein? Oder eine Person getroffen, die dich unbewusst an eine alte Wunde erinnert hat? Vielleicht hast du ein Erlebnis, das dich immer wieder einholt, obwohl es in der Vergangenheit liegt? Diese Phänomene lassen sich durch ein psychologisches Konzept erklären, das in Teilen mit den Ideen der Gestalttherapie verwandt ist: die Emotionale Verlagerung. Sie beschreibt die Unfähigkeit, bestimmte Emotionen direkt zu fühlen, und die Tendenz, sie stattdessen auf andere Menschen, Orte oder Zeiten zu projizieren.


Was ist Emotionale Verlagerung?

Emotionale Verlagerung bedeutet, dass wir Gefühle nicht in dem Moment erleben, in dem sie entstehen, sondern sie stattdessen auf externe Faktoren verschieben. Dies geschieht oft unbewusst.
Die Gestalttherapie betont, dass nur das Jetzt existiert – Vergangenheit und Zukunft sind lediglich mentale Konstrukte. Obwohl die Gestalttherapie nicht direkt den Begriff der emotionalen Verlagerung verwendet, gibt es verwandte Konzepte wie unfinished business (unverarbeitete emotionale Erfahrungen) und Projektion (die Tendenz, innere Emotionen auf externe Personen oder Umstände zu übertragen), die dieses Phänomen erklären können.

Ein Beispiel: Das Gefühl von Heimat ist in Wirklichkeit ein innerer Zustand, aber wir neigen dazu, es mit bestimmten Orten zu verbinden. Vielleicht hast du das Empfinden, dass du dich nur in deiner alten Kindheitsstadt wirklich "zu Hause" fühlen kannst. Doch was, wenn dieses Gefühl in Wahrheit immer in dir vorhanden ist und du es nur gelernt hast, an einen spezifischen Ort zu koppeln?


Emotionen und ihre Wahrnehmung

Ein zentraler Aspekt der emotionalen Verlagerung ist das Besitzrecht an Emotionen. Wenn wir eine Emotion fühlen, neigen wir oft dazu, sie auf andere Menschen oder Umstände zu projizieren, anstatt sie als einen Teil unserer eigenen menschlichen Erfahrung anzuerkennen.
Doch als Menschen haben wir Zugang zu einem breiten Spektrum an Emotionen – sowohl angenehme als auch unangenehme. Manche Menschen leben bestimmte Emotionen intensiver aus als andere, doch grundsätzlich hat jeder die Fähigkeit, das gesamte Spektrum zu erleben (außer bei bestimmten neurologischen Einschränkungen).


Die Illusion des Anderen

Emotionale Verlagerung geschieht auch in zwischenmenschlichen Beziehungen. Oft glauben wir, dass bestimmte Menschen uns ein Gefühl geben, das wir eigentlich in uns selbst erzeugen.

Beispiel 1: Die Mutterfigur

Ein Kind fühlt sich geborgen, wenn es von der Mutter gehalten wird. Doch die Geborgenheit existiert nicht in der Mutter, sondern als ein Gefühl im Kind selbst. Im Laufe des Lebens projizieren wir dieses Gefühl oft auf andere Menschen – Partner, Freunde oder sogar Orte. Doch in Wahrheit war das Gefühl immer in uns, nur an äußere Bedingungen gebunden.

Beispiel 2: Tod und Verlust

Wenn ein geliebter Mensch stirbt, gibt es zwei Arten, diesen Tod emotional zu erleben.

• Man kann direkt mit dem Gefühl des Todes konfrontiert werden – der Endlichkeit des Lebens, der Vergänglichkeit.
• Oder man fühlt den Verlust als das Fehlen eines Teils von sich selbst, weil man eine Emotion, die dieser Mensch in einem auslöste, auf ihn projiziert hat. Der Verlust schmerzt, weil es sich anfühlt, als hätte man einen Teil seines eigenen inneren Erlebens verloren.


Emotionale Speicher und Verdrängung

Stell dir deine Emotionen wie einen riesigen Computer mit unzähligen Ordnern vor. Manche Emotionen sind ordentlich abgelegt und zugänglich, während andere tief in verschlüsselten Unterordnern versteckt sind.
Manchmal öffnen sich diese versteckten Dateien unerwartet – durch Worte, Situationen oder Begegnungen. Diese gespeicherten Emotionen sind oft jene, mit denen wir uns bewusst nie auseinandergesetzt haben.


Tod, Gewalt und Trauma

Es gibt Emotionen, die gesellschaftlich oder individuell als besonders schwierig empfunden werden. Dazu gehören Themen wie Tod, Gewalt, Missbrauch oder Selbstverletzung. Wenn diese Themen zur Sprache kommen, reagieren viele Menschen mit starken Abwehrmechanismen – nicht, weil das Gespräch selbst schlimm ist, sondern weil es Emotionen hervorruft, die tief in ihrem emotionalen System versteckt sind.

Beispiel 3: Gewalt und Missbrauch

Das Thema sexueller Missbrauch oder Gewalt löst bei vielen Menschen extreme emotionale Reaktionen aus. Dies liegt daran, dass die dahinterliegende Emotion oft mit Machtlosigkeit, Ohnmacht oder Kontrollverlust verbunden ist. Selbst wenn eine Person keine direkte Erfahrung damit gemacht hat, kann das Thema alte Ängste oder unbewusste Emotionen aktivieren, die tief im emotionalen System gespeichert sind. Eine bewusste Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen kann helfen, die Abwehr zu reduzieren und die Emotionen zu integrieren.


Fazit

Emotionale Verlagerung zeigt uns, wie sehr wir unsere Gefühle mit Orten, Menschen oder Zeiten verknüpfen, anstatt sie direkt zu fühlen. Doch in Wahrheit gibt es nur das Jetzt. Indem wir unsere Emotionen bewusst in diesem Moment annehmen, können wir alte Wunden heilen und uns von unbewussten Projektionen befreien.
Die Erkenntnis, dass wir nicht andere für unsere Emotionen verantwortlich machen müssen, sondern sie als einen natürlichen Teil unseres Seins akzeptieren können, führt zu tiefer innerer Freiheit. Vielleicht ist "Zuhause" kein Ort, sondern ein Gefühl, das immer in uns schlummert – bereit, in jedem Moment gefühlt zu werden.